Die Verschwörungserzählung vom Jüdischen Ritualmord
Was haben das 15. und das 21. Jahrhundert gemeinsam? In beiden Jahrhunderten wurden Menschen aufgrund angeblicher jüdischer Ritualmorde verfolgt oder sogar ermordet. Wie der Überfall auf die Synagoge von Poway (San Diego) im April 2019 zeigt, dient der antijüdische Ritualmordvorwurf nicht nur einer verschwörungsmythologischen Deutung der Welt, sondern auch zur Begründung von Gewalt.
„Du bist nicht vergessen, Simon von Trient; den Horror, den du und zahllose andere Kinder von der Hand der Juden ertragen mussten, wird nie vergeben werden“,
schreibt der 19-jährige Attentäter in seinem „Manifest“ und bezieht sich damit auf das Jahr 1475, also auf ein mehr als 500 Jahre zurückliegendes Ereignis.
Was aber macht die Attraktivität des Ritualmordnarrativs in bestimmten Milieus heute aus? Wenn die Washington Post über den Attentäter schreibt, „A medieval mind-set is at the heart –of anti-Semitism, even when it spreads on 8chan“1, dann sind damit Fragen angesprochen, die auch das Ausstellungsprojekt verfolgt.
Doch wo genau stecken die Ursprünge dieses die Jahrhunderte überdauernden Phänomens und wie entwickelte es sich im Laufe der Zeit? Vor allem: Warum finden solche Fake News seit dem Mittelalter immer wieder ihren Weg in die Öffentlichkeit und können dort einen dauerhaften Platz einnehmen? Fake News – damit meinen wir Nachrichten oder Erzählungen, welche zwar als solche keiner ernsthaften Überprüfung standhalten würden, gleichzeitig aber von vielen als Wahrheit verstanden wurden und werden – mit realen Folgen für die Betroffenen. Einige Überlegungen dazu finden Sie auf den Seiten dieser Online-Ausstellung, welche im Rahmen eines Projektseminars an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf von Studierenden entwickelt worden sind. In dieser Ausstellung werden acht verschiedene historische Ritualmordbeschuldigungen untersucht und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Denn trotz eines gemeinsamen Grundnarrativs wandeln sich die konkreten Geschichten und die Medien ihrer Vermittlung im Laufe der Zeit. So zeichnen die angeblichen jüdischen Ritualmordfälle ein Bild der Entwicklung des Antijudaismus, der Fake News sowie der Mediengeschichte vom 15. Jahrhundert bis heute. Hier können wir nur einen Ausschnitt präsentieren.
Geht es um Feindschaft gegen Jüdinnen, Juden oder das Judentum als solches, stellt sich zunächst die Frage: Sprechen wir von Antisemitismus oder Antijudaismus? Diese Frage ist allerdings gar nicht so leicht zu beantworten. Bis heute streitet sich die Forschung über die genauen Definitionen und besonders den Zusammenhang der beiden Begriffe. Für die folgenden Seiten haben wir uns für eine äußerst simple und doch praktikable Definitionen entschieden:
Feindschaft gegen Jüdinnen, Juden und/oder das Judentum wird als …
…Antijudaismus definiert, wenn die Gründe vorwiegend religiös sind.
…Antisemitismus definiert, wenn die Gründe vorwiegend sozio-ökonomisch bzw. ethnisch-nationalistisch-rassistisch sind. (Der Begriff ‘Antisemitismus’ existiert allerdings erst seit 1879.)
In der Forschung wird das Beziehungsverhältnis der beiden Phänomene bis heute diskutiert. Zwar gibt es diverse Gemeinsamkeiten, allen voran die Tatsache, dass sich die Feindschaft gegen alles Jüdische als ein „Wir-gegen-Die“ darstellt und auf einem „Gerücht über die Juden” fußt.2 Auf der Suche nach Schuldigen für soziale, ökonomische oder sonstige Spannungen ist ein solches Konstrukt immer schon hilfreich, wenn nicht sogar entscheidend gewesen.3 Doch sind auch die Unterschiede zwischen Antijudaismus und Antisemitismus nicht zu leugnen. Ihr Beziehungsverhältnis nehmen besonders zwei Thesen in den Blick, die sich gegenüberstehen: Die Kontinuitätsthese und die Transformationsthese.
Im Kern baut die Kontinuitätsthese auf der Annahme auf, dass es zwischen dem älteren Antijudaismus und dem Antisemitismus des 19. Jahrhunderts eine kontinuierliche Entwicklung gab und immer noch gibt.4 Die Transformationsthese konzentriert sich im Gegensatz dazu auf die Rassentheorie, wie sie im 19. Jahrhundert in Erscheinung trat. Der Antisemitismus sei nicht eine simple Weiterentwicklung des Antijudaismus, sondern habe die antijüdischen Ressentiments auf eine rassistische und damit weniger religiöse Grundlage befördert.5
Die vorliegenden Beispiele angeblicher jüdischer Ritualmorde werden deutlich für die Kontinuitätsthese sprechen. Schließlich handelt es sich um ein Phänomen, welches die Geschichte seit dem Mittelalter durchzieht. Zwar hat es auch hier Wandel und Veränderung in den Argumentationsweisen gegeben, aber im Kern bleibt das Konstrukt gleich.
Die antijüdischen Ritualmordbeschuldigungen sind ein beständiges und mahnendes Beispiel dafür, wozu Fake News führen können. Das Grundnarrativ dieser Legenden bilden folgende Aspekte:
Eine Person, meist ein Kind, wird tot aufgefunden, mit Wunden am ganzen Körper. Als erstes verdächtigt wird die ortsansässige jüdische Gemeinde bzw. eines oder mehrere ihrer Mitglieder. Auch wenn es für deren Schuld keinerlei valide Beweise gibt, konzentrieren sich die Vorwürfe und eventuelle Ermittlungen doch im Großen und Ganzen auf den Verdacht, dass die Jüdinnen und Juden unschuldiges christliches Blut zu rituellen Zwecken missbräuchten. In der Folge werden die Gewaltopfer zu Opfern des vermeintlichen Rituals und oft als Märtyrer verklärt. Damit einhergehend wird zuweilen von Wunder- und Heilsgeschichten berichtet, die entweder vom Leichnam oder vom Grab ausgehen.6
Als erste bekannte Ritualmordlegende gilt die Ermordung des William of Norwich 1144. Zwischen 1150 und 1172 wurde sie vom Benediktinermönch Thomas von Monmouth als mehrbändige Märtyrergeschichte schriftlich fixiert. Seitdem tauchte die Erzählung immer wieder auf, zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Formen.7 Dem Vorbild des Pater Thomas folgend traten Ritualmordbeschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden in ganz Europa in Erscheinung.
Zentrales Motiv der Beschuldigten in diesen Geschichten ist seit 1235 die Gewinnung unschuldigen Christenblutes, in der Regel von Kindern. Obwohl der Konsum von Blut im jüdischen Glauben durch den Talmud verboten ist, hat es seit jeher immer wieder Versuche gegeben, diesen Aspekt zu begründen. Im Mittelalter hielten sich beispielsweise die Gerüchte, die jüdische Glaubensgemeinschaft nutze das Blut, um ihre Kinder von den Hörnern zu befreien, mit denen sie angeblich geboren würden. Außerdem verwendeten sie das christliche Blut zu medizinischen Zwecken und um den ihnen nachgesagten Judengestank zu überdecken.8 Besonders verbreitet und bis heute zu finden ist das unterstellte Motiv, wonach die jüdische Bevölkerung dieses Blut für rituelle Zwecke im Zusammenhang mit dem Pessah-Fest bräuchte, vor allem zum Einbacken in das traditionelle Brot, die ungesäuerten Matzen. Seit dem Aufkommen des Antisemitismus‘ im 19. Jahrhundert geriet dann verstärkt der Tod von Christenmädchen und Jungfrauen in den Fokus, sodass nun auch die sexuelle Komponente eine erhebliche Rolle spielte und zuweilen sogar in den Vordergrund geriet. Im Grunde konnte so schließlich jedes Gewaltverbrechen den Anschein eines Ritualmordes erwecken.9
In all den Jahren verbreiteten ganz unterschiedliche Personen und Organisationen über verschiedene und sich im historischen Längsschnitt entwickelnde Medien ihre Geschichte vom angeblichen jüdischen Ritualmord. Dabei ging es letztlich immer auch um Machterlangung, -festigung oder -ausübung, indem sie sich die Ängste der Bevölkerung zu Nutzen machten. Doch auch die materiellen Interessen dürfen an dieser Stelle nicht unterschätzt werden. So konnte ein Märtyrer oder eine Märtyrerin die Basis für Wallfahrten bilden, durch welche die Kirche Einnahmen generierte. Ebenso konstruierten die Blutbeschuldigungen einen (fiktiven) Sinn für den Tod der Kinder. Sie kreierten also Erklärungen für plötzliche und unerklärliche Kindstode.10
Auch die aktuelle Krise hat dieses antijüdische Deutungsmuster wieder in die Medien gebracht. Verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verknüpfen ihre Überzeugungen von der Verbindung des Stoffes Adrenochrom mit angeblichen Kindstoden und implizieren dadurch – selbst wenn sie den Begriff nicht nennen – die Vorstellung von einem jüdischen Ritualmord. Der Adrenochrom-Verschwörungsmythos entstand in den USA. Seine Anhänger*innen werden angeleitet von einer Art Propheten, bekannt unter dem Pseudonym Q – in Anlehnung an die staatliche Freigabe Q, die den Zugang zu den geheimsten Informationen und Dokumenten der US-Administration bedeutet. Wer hinter Q steckt, ist nicht sicher geklärt. Im Kern gehen die mittlerweile zahlreichen und teilweise dem Mainstream angehörenden Anhänger*innen von QAnon davon aus, dass eine Elite aus demokratischer Partei, Banken und Medien heimlich die USA regiere und kleine Kinder foltere und ermorde. Hier kommen unweigerlich Assoziationen zur Legende vom jüdischen Ritualmord auf.11 In diesem Kontext hat der alte antijüdische Mythos direkt oder indirekt seinen Weg zurück in die breite Öffentlichkeit gefunden. In welchem Maße traditionelle Medien mit ganz modernen kombiniert werden, zeigt einmal mehr das Beispiel Simons von Trient. So hat jüngst der in Kirchenkreisen bekannte italienische Maler Giovanni Gasparro ein Ölgemälde über das Martyrium Simons angefertigt, das er auch auf Facebook veröffentlichte. Gasparro postete das in seiner Drastik kaum zu überbietende Pseudo-Altarbild mit dem Titel Das Martyrium des Heiligen Simon von Trient durch den jüdischen Ritualmord12 ausgerechnet am 24. März 2020, dem Todestag Simons, also dem Tag des vermeintlichen Ritualmordes. Facebook reagierte – nach Protesten13 – mit einer gewissen Verzögerung und löschte den Post. Dass der Maler es versteht, auch damit umzugehen, zeigt ein weiterer Post mit dem Kommentar “Censured”.
Die hier gezeigte Ausstellung wird eben jenem Zusammenhang zwischen den angeblichen jüdischen Ritualmorden und ihren Publikationsmedien nachgehen: Wie änderten sich die Geschichten? Welche Medien waren zu welcher Zeit populär? Aber vor allem: Wie können Menschen im Jahr 2021 eine Lüge glauben, die im Mittelalter entstand?
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