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Die Legende des Anderl von Rinn

Am Anfang stehen ein Mann und eine Geschichte. Das Ergebnis ist ein seit über 400 Jahren andauernder Kult. Dieser geht zurück auf die Erzählung des kurzen Lebens von Andreas Oxner bzw. Ochsner, der 1459 in Rinn bei Innsbruck geboren und – so die antijüdische Legende – als Dreijähriger von jüdischen Händlern ebendort ermordet worden sein soll. Einem breiten Publikum bekannt wurde die Geschichte allerdings erst 150 Jahre später, seit den 1620er Jahren. Der Arzt des Haller Frauenstifts Hippolyt Guarinoni hörte laut eigener Angaben im Jahr 1619 zum ersten Mal von der Geschichte und arbeitete seitdem an seinen Recherchen zu der Legende. Auch wenn es sich bei seinen angegebenen Quellen um Erzählungen oder Träume handelt, schuf er den Grundstein für den bis in die Gegenwart reichenden Anderl-Kult. In den folgenden Jahrhunderten sollte es vielzählige Fassungen der Legende geben. Den frühesten Nachweis bildet ein Theaterstück, 1621 aufgeführt im Haller Jesuitengymnasium, von welchem heute nur eine kurze Zusammenfassung, die Perioche, überliefert ist.1
Die erste schriftliche und maßgebende Beschäftigung mit dem Thema veröffentlichte Guarinoni dann 1642 in Form eines Liedes, welches heute als Triumph-Lied bekannt ist. Hier erzählt er die Legende wie folgt:
Nach dem frühen Tod seines Vaters leben Andreas und seine Mutter bei Andreas’ Taufpaten. Als 1462 jüdische Händler durch das Dorf Rinn ziehen, überreden sie den Taufpaten, ihnen das Kind zu verkaufen. Als die Mutter auf dem Feld arbeitet, übergibt der Pate den Juden für einen Sack voll Geld das Kind. Diese bringen den dreijährigen Andreas in den Wald und martern ihn auf einem Stein – dem sogenannten Judenstein – zu Tode, bevor sie mit seinem Blut verschwinden. Während der Tat fallen der Mutter drei Blutstropfen auf die Hand, die sie als unheilkündendes Zeichen deutet. So eilt sie nach Hause, wo sie erfährt, was passiert ist. Schließlich findet sie ihren toten Sohn, aufgehängt an einem Birkenbaum im Wald. Der Pate stellt unterdessen fest, dass sich das Geld in Laub verwandelt hat, verliert den Verstand und stirbt wenig später.
Wie bei vielen Ritualmordlegenden sollen auch am Grab des Anderl und an dem Birkenbaum in den folgenden Jahren Wunder geschehen sein. Der Birkenbaum blühte angeblich sieben Jahre, bis ein Geißhirt versuchte ihn zu fällen, mit seinem Fuß stecken blieb und starb. Auf dem Grab des Anderl sollen die Blumen nicht verblüht sein, bis einige Kinder sie zerstörten, welche mit samt ihrer Familien und allen folgenden Generationen verflucht wurden.2
Die Parallelität zur Geschichte des Simon von Trient, welcher 1472 auf ähnliche Weise ums Leben gekommen sein soll, ist mehrfach herausgearbeitet worden, nicht zuletzt durch Klaus Brandstätter, der in seinem Aufsatz zu antijüdischen Ritualmordvorwürfen in Trient und Tirol bereits auf der ersten Seite darauf verweist, dass die Geschichte des Anderl derer des Simon nachempfunden worden sei.3 Die sehr ähnlichen Erzählstrukturen beider Geschichten bilden einen weiteren Hinweis auf die Konstruktion der Geschichte, die sich in dieser Art wohl nie zugetragen hat. Einzig der Historiker Heinz Noflatscher hat in seinem Aufsatz zum jüdischen Leben in Tirol darauf hingewiesen, dass sich in einem Visitationsbericht von 1612 erste Hinweise auf einen schon damals bestehenden und damit deutlich älteren Kult finden lassen.4 Weitere Nachforschungen stehen an dieser Stelle bis jetzt allerdings noch aus. Im Gros der Veröffentlichungen wird bis heute weiterhin davon ausgegangen, dass es weder für die Tat noch für die bloße historische Existenz eines Kindes mit dem Namen Andreas Oxner bzw. Ochsner valide Beweise gibt.
Unberührt von der fraglichen Entstehungsgeschichte der Legende bleibt der bis heute andauernde Anderl-Kult. Zwar wurde er 1994 durch ein kirchliches Dekret offiziell aufgehoben, aber an der Verehrung selbst hat dies nur wenig geändert, wie aktuelle Berichte von Anderl-Zügen belegen.5