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Die Damaskusaffäre – Europäischer Antijudaismus entflammt im Nahen Osten

Im Jahre 1840 lebte in Damaskus eine jüdische Bevölkerung, die auf 5.000 bis 20.000 Menschen geschätzt wird. Nachdem am 5. Februar desselben Jahres der Vorsteher des örtlichen Kapuzinerordens, der aus Sardinien stammende Pater Tomaso (Thomas) wie auch sein Diener Ibraim spurlos verschwunden waren, wurden die dort wohnhaften Juden verdächtigt, mit diesen Ereignissen in Verbindung zu stehen.
Zwar fanden sich Augenzeugen, die behaupteten, den Pater zuletzt in das jüdische Viertel gehen gesehen zu haben, doch genauso gab es Aussagen über einen heftigen Streit zwischen muslimischen Mitbürgern und dem Geistlichen. Angeblich hatte sich dieser gotteslästerlich gegenüber dem Propheten Mohammed geäußert – ein Hinweis, dem im weiteren Verlauf jedoch nicht nachgegangen wurde. Obwohl es keine eindeutigen Beweise gab, dass der oder die Täter tatsächlich in den Reihen der Juden zu suchen waren, wurde die Durchsuchung einiger Häuser im jüdischen Viertel angeordnet. Dies geschah insbesondere auf Geheiß des französischen Konsuls Ratti-Menton. Ein Grund dafür war, dass Frankreich sich im 19. Jahrhundert als Schutzmacht der Christen im Osmanischen Reich verstand. Nachdem die Schikanen nach den ersten Verdächtigungen allerdings ergebnislos blieben, schreckte der Agitator Ratti-Menton nicht davor zurück, den Vorwurf des Ritualmordes zu propagieren. Nun fand dieses Deutungsmuster Einzug in die muslimische Welt.
Das rasch sich in Damaskus verbreitende Narrativ sorgte dafür, dass bald die wohlhabendsten Juden der Gemeinschaft verhaftet, verhört und gefoltert wurden, um von ihnen Geständnisse zu erpressen. Um die gewünschten Aussagen zu erzwingen, veranlasste Ratti-Menton mit der Hilfe des Statthalters von Damaskus, sogar Kinder aus jüdischen Familien einzusperren und ihnen die Nahrung zu verwehren, sodass ihre Eltern aus Verzweiflung alles gestehen sollten, was für das weitere Vorgehen gegen die Vorverurteilten nützlich sein könnte.1 Kurz darauf forderte die Pogromstimmung bereits erste Opfer aus den Reihen der jüdischen Einwohner.
Durch die in den brutalen Befragungen zugefügten Qualen kam es teilweise zur Konversion zum muslimischen Glauben und tatsächlich auch zu Geständnissen. Diese wurden zwar oftmals kurz darauf widerrufen, doch nahmen die Peiniger die erpressten Aussagen zum Anlass, den Druck auf ihre Opfer zu erhöhen. Unter Androhung der sofortigen Exekution im Falle eines Widerspruchs innerhalb der verhängnisvollen Schuldbekenntnisse, wurden sukzessiv Szenarien der Ermordung der beiden Vermissten konstruiert und diese zu Märtyrern stilisiert.2
Aus den Abwasserkanälen des Judenquartiers wurden Knochenfragmente, Stofffetzen und einige Gewebereste gesammelt, welche für die sterblichen Überreste Pater Tomasos und seines Dieners ausgegeben wurden. Für sie wurde in der Kapuzinerkirche eine Messe abgehalten und danach die vermeintlichen Überreste vor Ort beigesetzt. Zudem wurde ein Gedenkstein mit einer Inschrift angebracht, welche an den vermeintlichen Ritualmord erinnern sollte. Durch eine Gruppe von Ärzten wurde in einem offiziellen Bericht vertreten, dass es sich ihrer Meinung nach um menschliche Überreste handele. Auf die Stimmen anderer Mediziner, die dem Gutachten nicht zugestimmt und die Knochen einem Tier zugeordnet hatten, wurde keine Rücksicht genommen.
Als die Situation sich für die jüdische Bevölkerung in Damaskus verschlimmerte, erstattete der österreichische Konsul Merlato Bericht über die Vorgänge und sorgte so dafür, dass der Ritualmordvorwurf in Europa zu einer politischen Affäre wurde. Auch hier fiel das Ritualmord-Gerücht – für manche Zeitgenossen überraschend – teilweise auf fruchtbaren Boden. Ebenso bewog es verschiedene Akteure dazu, sich öffentlich für die von dieser perfiden Repression betroffenen Juden auszusprechen. Die internationale Presse berichteten über den Vorfall, auch hier fiel das Ergebnis mal mehr, mal weniger wohlwollend für die Beschuldigten aus.
Erst Monate später, am 6. September, wurden die Gefangenen nach diplomatischer Intervention und Verhandlungen durch ein Edikt des Sultans begnadigt, wobei sie zunächst nicht freigesprochen wurden, ihre Schuld also offiziell nicht widerrufen wurde. Diejenigen angeklagten Juden, welche die Misshandlungen und die Folter überlebten, kamen schließlich frei.3

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