Die Damaskusaffäre im 20. und 21. Jahrhundert
Die Berichterstattung über die Damaskusaffäre in den internationalen Zeitungen führte zu einem hohen Bekanntheitsgrad in der westlichen Hemisphäre. Während demokratische Staaten in den Jahrzehnten nach 1840 versuchten, die Öffentlichkeit mit Publikationen aufzuklären, erkannten antisemitische Elemente weltweit das politische Potential der Damaskusaffäre. Die jüdischen Kommissionen zur Rettung der Inhaftierten und das Eingreifen der Familie Rothschild wurden von Antisemiten als Beweis für eine jüdische Weltverschwörung im Kontext des Ritualmordes von Damaskus präsentiert.
Die Ereignisse von Damaskus griff u. a. der katholische Theologe August Rohling auf. Der fanatische Antisemit Rohling veröffentlichte im Jahr 1871 mit seinem Werk Der Talmudjude diverse Verschwörungstheorien, in denen er den Juden vorwarf, einen kriminellen Hass auf die Christenheit zu hegen. Unter anderen nannte Rohling die Damaskusaffäre als einen klaren Beweis für seine Theorie. In den Folgejahren erfreute sich Rohlings Talmudjude einer immensen Popularität, sowohl in seiner deutschen Heimat, als auch anderswo. Bereits nach kurzer Zeit wurden Ausgaben in französischer, polnischer, ungarischer und arabischer Sprache publiziert.1
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand die Welt vor großen Erneuerungen in der Wissenschaft und der Technik. Begleitet wurden diese von lauten Rufen nach sozialen und politischen Reformen, insbesondere in Europa. Damit verbunden war zu jener Zeit auch ein enormer Anstieg des Antisemitismus bemerkbar. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wurde der Hass auf alles Jüdische schließlich zur Staatsdoktrin erhoben. Was später im Menschheitsverbrechen des Holocaust mündete, begann mit der Entmenschlichung der Juden und der Hetze gegen ihren Glauben.
Hitler fand in seinem Feldzug gegen das Judentum treue Verbündete in Europa, aber auch im Mittleren Osten waren Antisemiten begeistert von dessen Rücksichtslosigkeit. Der Mufti von Jerusalem, Hajj Amin Al-Husseini, war ein früher Wegbegleiter Hitlers und kooperierte eng mit dem NS-Staat. Al-Husseinis persönliches Interesse lag dabei in der Vertreibung der jüdischen Siedler aus dem Heiligen Land. Hierzu nutzte er politisch den arabischen Antizionismus. Um seinen Argumenten jedoch eine tiefere Bedeutung beimessen zu können, instrumentalisierte Al-Husseini die islamische Tradition. Die darin auffindbaren historischen Konflikte zwischen den frühen Muslimen und den jüdischen Stämmen auf der arabischen Halbinsel waren für ihn ein willkommenes Beispiel für eine „ewige Feindschaft“ der beiden Religionen. Al-Husseinis antisemitisches Konstrukt des Religionskrieges zwischen Juden und Muslimen wurde später auch von den Islamisten der ägyptischen Muslimbruderschaft aufgegriffen.2
Ein weiterer Verfechter der Ritualmordlegende in der islamischen Welt war der türkische Autor und Publizist Cevat Rifat Atilhan. Atilhan war ein glühender Antisemit und ebenfalls Bewunderer Adolf Hitlers. In seinem Werk „Igneli Fıçı“ (Das nagelbeschlagene Fass) beschreibt auch er die Ritualmordlegende von Damaskus als einen historischen Fakt. Atilhans enge Kontakte zum NS-Regime sind dokumentiert: Bereits 1933 besuchte er Julius Streicher in Berlin. Umgekehrt waren auch die Nationalsozialisten von Atilhans antisemitischer Hetzschrift „Igneli Fıçı“ begeistert und forderten von ihm eine deutsche Übersetzung. Es soll zudem ein Treffen mit dem NS-Chefideologen Alfred Rosenberg stattgefunden haben, gefolgt von einer gemeinsamen Führung durch das Konzentrationslager Oranienburg.3
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschwand zwar das „Dritte Reich“ von der Landkarte, nicht aber seine todbringende Ideologie aus den Köpfen. Unter dem Deckmantel des Antizionismus verbreiteten Hitlers arabische Verbündete die Ritualmordlegende von Damaskus nun im Kampf gegen den neugegründeten israelischen Staat. Bis heute erfreut sich das Narrativ vom jüdischen Ritualmord im Mittleren Osten einer ungebremsten Popularität. Arabische und türkische Antisemiten nutzen hierzu nicht nur Publikationen, sondern auch modernste Mittel wie Satellitensender und das Internet. Das Fehlen einer flächendeckenden Zensur von volksverhetzenden Internetinhalten in diesen Staaten führt zu einer kaum kontrollierbaren Flut an modernen Versionen von antisemitischer Ritualmord-Propaganda.
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