Weitere Kapitel zum Thema:
Rezeption der Damaskusaffäre im Mittleren Osten
Die Damaskusaffäre markiert einen bedeutenden Einschnitt für die islamischen Gesellschaften im Umgang mit ihren jüdischen Minderheiten. Während in den Jahrhunderten zuvor fast ausschließlich der christlich-europäische Antijudaismus in Erscheinung trat, änderte sich dies ab 1840 signifikant. Die Instrumentalisierung des christlichen Antijudaismus durch ausländische Repräsentanten wie Ratti-Menton war für die islamische Welt ein Novum: Während es bereits früher in verschiedenen Provinzen des Osmanischen Reiches vereinzelt zu antijüdischen Pogromen kam, waren deren Urheber häufig Mitglieder der dort ansässigen Christen. Ratti-Mentons Wirken in der Damaskusaffäre wird daher als ein Import der europäischen Ritualmordlegende in die islamische Welt verstanden.1
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden viele arabische Staaten, insbesondere Ägypten und Syrien, von einer Welle antisemitischer Literatur erfasst. Symptomatisch hierfür war die Veröffentlichung der „Protokolle der Weisen von Zion“ im Jahr 1903. Zuvor, 1890, publizierte bereits der ägyptische Schriftsteller Habib Faris ein Werk, in dem er die Ritualmordlegenden als historische Wahrheiten darlegt. Faris, der christlichen Glaubens war, bezeichnete die Praxis des „Menschenschlachtens“ als einen Jahrhunderte alten jüdischen Ritus. 1899 erschien dann eine Übersetzung von August Rohlings Werk Der Talmudjude, herausgegeben vom libanesischen Maroniten Yusuf Nasrallah. Nasrallah bezeichnet darin den vermeintlichen Ritualmord an Pater Tomaso als einen „klaren Befehl der talmudischen Gesetze“.2
Jahrzehnte später führte die Ansiedlungspolitik der zionistischen Bewegung im britischen Mandatsgebiet Palästina zur Entwicklung eines Bedrohungsszenarios für viele Araber. Diese betrachteten die Juden im Heiligen Land, welche häufig Opfer von Pogromen und Vertreibungen in ihren europäischen Heimatländern geworden waren, als eine Bedrohung für ihre eigene Existenz. Diese damals kaum realistische Gefahr führte im Laufe der Zeit sogar zu einer antijüdischen Allianz zwischen den Nationalsozialisten und dem Mufti von Jerusalem, Hajj Amin Al-Husseini. Al-Husseinis Funktion als Geistlicher lag darin, den Rassenhass der Nationalsozialisten mit einer islamischen Legitimation zu versehen und diesen dadurch für die breite Masse der arabischen Gesellschaften salonfähig zu machen. Dadurch wurde der Mufti zu einem Vordenker des islamistischen Antisemitismus. Die Muslimbruderschaft in Ägypten und ihre ideologische Galionsfigur Sayyid Qutb predigten ebenso wie Al-Husseini einen religiös motivierten Judenhass. Während der islamistische Antisemitismus in den 1950er und 1960er Jahren in der arabischen Welt vorerst an Relevanz verlor, gewann die neue Ideologie des antisemitischen Panarabismus in Ländern wie Ägypten, Syrien und dem Irak immer mehr an Boden. In ihrem Kampf gegen den jungen Staat Israel nutzen die im Kern säkularen panarabischen Nationen die islamische Theologie, um ihrer Feindschaft zu den Juden eine tiefere historische Bedeutung beizumessen. 3
Der syrische Verteidigungsminister Mustafa Tlass veröffentlichte 1983 eine pseudowissenschaftliche Arbeit zur Damaskusaffäre mit dem Titel Die Matze Zions. Für den promovierten Historiker handelte es sich bei den Ereignissen des Jahres 1840 um einen jüdischen Ritualmord. Der Antisemit Tlass konstruierte im Kontext der Damaskusaffäre eine jüdische Weltverschwörung als treibende Kraft hinter den Kulissen herbei. Jüdische Bankiers in Europa und in den Vereinigten Staaten hätten ihre enormen medialen und finanziellen Ressourcen mobilisiert, um eine Intervention der europäischen Großmächte zu provozieren. Den „Ritualmord“ am Kapuzinermönch und an seinem Diener verglich Tlass mit den „zionistischen Verbrechen im Libanon und in Palästina“. Eine weitere Parallele sei die Berichterstattung über den Nahost-Konflikt, welche er als „von Juden instrumentalisiert“ bezeichnete. Tlass´ Werk basiert dabei fast ausnahmslos auf Dokumenten aus französischen Archiven und aus Archiven in Syrien. Die Verhörprotokolle der durch Folter erzwungenen Geständnisse präsentiert er als glaubwürdige historische Quellen.4
Die Ritualmordlegende spielt im islamistischen Spektrum der Gegenwart eine wichtige Rolle. Antisemitische Parolen wie „Kindermörder Israel“ werden bis heute von radikalen Islamisten verbreitet und verdeutlichen erneut die Aktualität der Ritualmordlegende als Propagandamittel des islamistischen Fundamentalismus.
Exponate zum Thema
Interview mit Khāled Al-Zāfrāni, Gründer der ägyptischen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt im ägyptischen Fernsehen. Bei der Partei handelt es sich um den politischen Arm der Muslimbruderschaft.
Al-Zāfrāni vertritt hier, dass die Juden für das Pessachfest Menschen opferten und das Blut der Opfer für Matze nutzten. Er zieht dabei den historischen Bogen von der Damaskusaffäre bis in die Gegenwart, indem er behauptet, dass Juden selbst heute noch Menschen für rituelle Zwecke opfern würden.
Quelle:
Times of Israel, MEMRI (Middle East Media Research Institute) mit freundlicher Genehmigung, online: https://www.timesofisrael.com/egyptian-politician-revives-passover-blood-libel/ (Abruf 14.06.2021).:
In einem Internetvideo bezeichnet der kuwaitische Akademiker Muhānna Hāmad al-Muhānna die Ritualmordlegende von Damaskus 1840 als historischen Fakt und nennt die Involvierung der Familie Rothschild als Beleg für eine jüdische „Weltverschwörung“.
Quelle:
MEMRI (Middle East Media Research Institute). Mit freundlicher Genehmigung.
https://www.memri.org/tv/kuwait-researcher-muhanna-repeats-blood-libel-jews-are-treacherous-usurious (Abruf 14.06.2021):
Ausschnitt aus der syrischen TV-Serie „Al-Shatat“ [Diaspora] über einen Ritualmord an einem christlichen Knaben. Ausgestrahlt 2005 im jordanischen Fernsehen. Enthält explizite Szenen der Kindstötung.
Quelle: MEMRI (Middle East Media Research Institute). Mit freundlicher Genehmigung, online: https://www.memri.org/reports/al-shatat-syrian-produced-ramadan-2003-tv-special (Abruf 17.10.2021).: