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Jüdische Reaktionen

Der jüdische Aufschrei rund um den Prozess gegen Bejlis war verständlicherweise enorm. Die Reaktionen kamen u. a. aus dem russischen Zarenreich selbst, aber viel mehr noch aus dem Ausland. Der Fall führte zu einem beachtlichen Schub in der Organisation und Mobilisierung internationalen jüdischen Widerstands gegen antisemitische Vorfälle.1 In unzähligen Zeitungsberichten, als Protest und Engagement berühmter Persönlichkeiten, wie dem Briten Lord Rothschild, oder in Form künstlerischer Auseinandersetzung kamen jüdische Menschen zu Wort. Sie wehrten sich, stärker denn je, gegen den jahrhundertealten Ritualmordvorwurf und verteidigten Mendel’ Bejlis und die gesamte Judenheit.
In einem fiktiven Roman verarbeitete der auch international bekannte Schriftsteller Scholem Alejchem den Fall und machte damit, wie mit zahlreichen weiteren Werken aus seiner Feder, die komplizierte Geschichte der Juden und Jüdinnen im Zarenreich greifbar, ohne dabei jemals an Humor zu verlieren. Trotz des fiktiven Charakters des Romans und einer von der Bejlis-Affäre unabhängigen Rahmengeschichte, hielt Alejchem sich eng an die tatsächlichen Ereignisse und die mediale Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem Fall. Zudem beleuchtete er die besorgniserregenden Geschehnisse stets kritisch, oftmals auch durchaus zynisch und spöttisch. Alejchems Geschichte fand später auch auf der Theaterbühne Platz. Insbesondere die jiddischen Theater New Yorks überschlugen sich mit Stücken über Mendel’ Bejlis, teilweise bereits vor Prozessende. Nie zuvor hatte ein Ereignis so viel Aufmerksamkeit vom zeitgenössischen jiddischen Theater erhalten.2
Gleichermaßen kamen musikalische Verarbeitungen des Falls überwiegend aus den Vereinigten Staaten. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die Tatsache, dass ein Großteil der dort lebenden jüdischen Bevölkerung selbst aus dem Russländischen Reich eingewandert war und daher eine besondere Betroffenheit empfand. Viele waren im Zusammenhang mit der Pogromwelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts geflohen, eine weitere Fluchtbewegung wurde durch den Bejlis-Prozess selbst ausgelöst. Die Hoffnung, dass das Gerichtsverfahren weltweit auf das Leid russischer Juden und Jüdinnen aufmerksam machen würde, reichte nicht aus, um die Menschen in ihrer Heimat zu halten. Einige Nachfahren der Emigrant*innen trafen später Bejlis’ Nachfahren in den USA und bedankten sich bei ihnen. Das Schicksal des zu Unrecht Angeklagten alarmierte ihre Familien, wodurch sie letztlich vor der Shoah verschont geblieben sind.3
Insgesamt schwankten die Reaktionen nach dem Prozess zwischen der erleichternden Vorstellung, von der Blutbeschuldigung befreit worden zu sein − „[g]emeinsam mit Bejlis war das jüdische Volk auf der Anklagebank gewesen und gemeinsam mit Bejlis ist das jüdische Volk von der schrecklichen Anklage befreit worden“4 − und der gleichzeitigen ernüchternden Einsicht, dass die Realität, gerade im zaristischen Russland, weiterhin anders aussah.
Das Interesse an Mendel’ Bejlis als Person, als Verfolgter, als Held war nach der Verhandlung gerade auf jüdischer Seite noch viele Jahre präsent. In seinen Memoiren erinnert sich Bejlis an einen regelrechten „Bejlis-Tourismus“ in Kiev − vor seinem Haus wurde sogar ein Schild mit der Aufschrift „Bejlis-Station“ aufgestellt.5 Er schrieb auch von riesigen, jubelnden Menschenmengen an den Bahnhöfen während seiner Auswanderung, von Einladungen zu Veranstaltungen in hoher Gesellschaft und unzähligen Empfängen bei Politiker*innen und Organisationen. In New York schätzte man ihn innerhalb der jüdischen Gemeinschaft so sehr, dass niemand es wagte, ihm eine Arbeitsstelle anzubieten, obwohl er dringend eine suchte. Zu groß war die Angst vor Verurteilung durch Andere, denn kein Angebot hätte solch einer bedeutenden Persönlichkeit letztendlich entsprechen können.6 „Meine lieben jüdischen Mitmenschen, ihr habt solch ein großes Monument auf mir gebaut, dass ich niemals aus meinem Grab herauskommen werde!“, soll er immer wieder nach all dem Trubel um seine Person im geschützten Raum der Familie ausgerufen haben, so erzählte es seine Tochter Rachel Beilis in einem 1999 geführten Interview.7

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