Navigation: Kiev > Rezeption im Nationalsozialismus

Rezeption im Nationalsozialismus

Auch die Nationalsozialist*innen instrumentalisierten die Bejlis-Affäre und nutzten sie, um ihre antisemitische Propaganda zu verbreiten. Hellmut Schramm (1904–?) gibt das antisemitische Narrativ auf 36 Seiten detailliert wieder. Er nutzt die übliche abwertende NS-Sprache und bezieht in jede Entwicklung der Affäre „die Juden“ und ihre angeblichen Machenschaften ein: sie wollten die Wahrheit verheimlichen und ihnen sei dafür jedes Mittel recht gewesen – von Beamtenbestechung über Presselenkung bis hin zu Mord. Wie von Staatsanwalt Vipper, den Schramm mehrfach und ausgiebig zitiert, wurde auch von nationalsozialistischer Seite eine Verschwörung der sogenannten „Judenpresse“ vermutet, die nichtjüdische Verdächtige aufböte, um so den Verdacht von den angeblich jüdischen Tätern abzulenken. Auch die Ermittler seien durch „Pressejuden“ beeinflusst und bestochen worden.1
Erst durch die Kiever Jugend sei der vermeintlich wahre Hintergrund der Tat offengelegt worden. Die „konzentrierten Angriffe jüdischer Schmutzfinken“ seien die Bestätigung dafür, dass die Ermittlungen der antisemitischen Schwarzen Hundertschaften, namentlich des Studenten Vladimir Golubev, richtig gewesen seien.2 Die ausführliche Berichterstattung über den Prozess habe „das Judentum […] verhindert“, fantasiert Schramm, die Berichterstatter seien, bis auf einen, alles Juden gewesen oder hätten jüdische Vorgesetzte gehabt. Dies passt in die nationalsozialistische und antisemitische Sicht auf die Presse.3 Schramm webt auch das antisemitische Narrativ der jüdischen Wirtschaftskontrolle in seine Erzählung ein und gibt an, dass es „überflüssig [sei], auf die Rolle der Rothschilds noch einmal einzugehen“.4 Dieser hatte sich gegen die theologischen Gutachter im Prozess stark gemacht. Bis heute hält sich das Narrativ der die Weltwirtschaft steuernden Familie Rothschild.
Vera Čeberjak, eine der wahrscheinlichen Mörder*innen Andrejs, wird als „judenhörige[s] Wesen“ beschrieben, obwohl gerade sie maßgeblich an der Verbreitung der antisemitischen Ritualmordlegende beteiligt war. Sie sei jedoch später, nach einem angeblichen Bestechungsversuch von ihrem nicht-judenfeindlichen Einstellungen „endgültig kuriert“ worden.5 Schramm verwendet zur Untermauerung seiner Hetze die Gutachten der Gerichtsmediziner Obolonskij und Tofanov sowie des antisemitisch eingestellten Psychiaters Sikorskij, dessen Darlegungen das antisemitische Narrativ für die Anklage bestätigte.
Diese Sammlung aufsehenerregender Ritualmordbeschuldigungen verweist immer wieder auf Parallelen zu anderen angeblichen Fällen. Sie schließt mit einem Aufruf, den Kampf gegen Juden zu führen, um eine „neue Weltordnung“ zu schaffen, „in der der Jude nichts mehr zu suchen und – zu morden hat“.6 Den Einsatz bekannter deutscher Persönlichkeiten und Gelehrter beschreibt Schramm ebenfalls. Anhand einiger Beispiele führt er aus, was nach nationalsozialistischer Gesinnung völlig falsch sei: Die Idee, christliche und jüdische Deutsche könnten in einer Gemeinschaft leben und die Darstellung jüdischen Einsatzes im deutschen Heer während des Ersten Weltkriegs bezeichnet er als Gefasel. Der Einsatz gegen die Blutbeschuldigung wird gar als „höchst verdächtige[r] Eifer“ betrachtet.7
Doch nicht nur über Schramms Pamphlet wurde die Bejlis-Affäre in die antisemitische Propaganda des Nationalsozialismus eingebaut; auch Der Stürmer unter Julius Streicher (1885–1946) veröffentlichte entsprechende Artikel, vor allem in seinen Ritualmord-Nummern 1934 und 1939. Hier wird in Kürze ebenfalls das antisemitische Narrativ wiedergegeben, nicht ohne hervorzuheben, dass laut Gerichtsurteil die Ermordung des Juščinskij „zwecks Blutgewinnung“ stattgefunden habe.8
Besonders heraus sticht eine Karikatur, die laut Stürmer 1913 vom jüdischen Kahal (Ausgabe 1934) beziehungsweise vom „Weltjudentum“ (Ausgabe 1939) herausgegeben worden sein soll. Zu sehen ist ein chassidischer Jude, der aus einem Buch, wahrscheinlich der Torah, liest und einen Hahn in der Hand hält, dessen Kopf durch den Kopf von Zar Nikolaus II. ersetzt wurde. Der Hahn symbolisiert den Kapores-Hahn, welcher im Judentum als Sühneopfer gebracht wird. In der Ausgabe von 1939 wird diese angeblich jüdische Postkarte als Ankündigung der Ermordung des Zaren als „nächstes politisches Sühne-Schlachtopfer“ in die antisemitische Erzählung eingebettet.9 Die Karikatur und die mit ihr verbreitete antisemitische Propaganda wurde im Nürnberger Prozess als Beweismittel verwendet.

Exponate zum Thema