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Russische Stimmen

Als am 20. März 1911 die Leiche des vermissten Jungen Andrej Juščinskij nach tagelanger Suche gefunden wurde, brach eine Welle von Hass, Panik und regelrechter Massentrauer aus. Schon bald verbreitete sich das Gerücht eines jüdischen Ritualmordes und auch ein vermeintlicher Täter in Gestalt des Fabrikarbeiters Mendel’ Bejlis wurde gefunden. In der Öffentlichkeit schien kaum ein Thema wichtiger als die Ermordung Andrejs zum Zwecke einer rituellen Opferung. Antisemitismus hat in Russland eine lange Geschichte und er zeigte sich in den Wirren der Revolution von 1905 auch auf den Straßen. Bis heute – mehr als 100 Jahre nach dem Freispruch von Mendel’ Bejlis – gibt es Menschen im russischsprachigen Raum, die nicht nur an die Existenz solcher Ritualmorde glauben, sondern das Judentum für das manifestierte Böse an sich halten.
Es dauerte nicht lange, bis die Ermordung Andrej Juščinskijs und die Beschuldigung Mendelʼ Bejlis’ im Mittelpunkt künstlerischer Verarbeitung standen. Sowohl die Dokumentation Delo k rassledovaniju Andreja Juščinskogo [dt. Akte über die Ermittlungen zu Andrej Juščinskij] aus dem Jahr 1912 als auch der Spielfilm Process Bejlisa [dt. Der Bejlis-Prozess], der 1917 erschienen war, brachten die Bejlis-Affäre auf die Leinwand.1 Erstere sogar noch bevor die Gerichtsverhandlungen überhaupt begonnen hatten. Über die Jahrzehnte hinweg folgten einige weitere Filmproduktionen und sogar Romane, wie zum Beispiel Konj blednyj evreja Bejlisa [dt. Das blasse Pferd des Juden Bejlis] von Gelij Rjabov.2 Auf internationaler Ebene kann darüber hinaus das britische Filmdrama The Fixer aus dem Jahr 1968 genannt werden, eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Bernard Malamud, die einen großen Erfolg erlebte.3 Es erscheinen regelmäßig multimediale Beiträge zur Bejlis-Affäre und zu Ritualmordlegenden; dies zeigt einmal mehr die fortwährende Relevanz des Themas für den russischen Sprachraum und der Ukraine.
Obwohl moderne, offizielle Berichterstattungen und Dokumentationen sich deutlich vom vermeintlichen Wahrheitsgehalt der antijüdischen Verleumdungen distanzieren, werden alle Jahre wieder Stimmen laut, die von neuen Opferungen von Christen wissen wollen. So zum Beispiel 2005, als in Krasnojarsk fünf Kinder verschwanden und kurz darauf ihre verbrannten Überreste gefunden wurden. Michail Nazarov, ein bekannter russischer Antisemit, verfasste daraufhin den Vorwurf des Ritualmordes und berief sich dabei auf den Bejlis-Fall, der Ritualmorde an christlichen Kindern angeblich beweise.4 Der Umstand, dass kein Jude jemals für den Mord an Andrej Juščinskij verurteilt wurde, ändert nichts daran, dass der Fall bis heute in antisemitischen Kreisen als Beleg für die Existenz von jüdischen Ritualmorden dient – auch weil die Geschworenen damals den Vorwurf bestätigten.
Die Motive, an solche Legenden zu glauben, sind so verschieden, wie sie nur sein können. Nationalisten, Rassisten, Antisemiten, radikale Christen…sie alle meinen die Wahrheit hinter den zum Teil absurden Behauptungen zu kennen. Die Grenzen dieser Lager verschwimmen teilweise ineinander. Sogar die russische Regierung und die ihr nahestehenden Institutionen finden sich im Schussfeld der Hetzer, die ihnen vorwerfen, mit dem Judentum zusammenzuarbeiten und zum Teil von Juden infiltriert zu sein. Schon damals, als kurz nach der Revolution mehrere der am Prozess Beteiligten hingerichtet wurden oder anderswie zu Tode kamen,5 hätten sich angeblich die jüdischen Bolʼševiki in Bejlis Namen gerächt. Dieser Mythos hält sich bis heute.
Verbreitet werden die Gerüchte zu einem großen Teil über das Internet. Durch Anonymität und weltweite Verbindungen bietet es einen idealen Nährboden für Fake News und Verschwörungstheorien, Hass und religiösen Fanatismus. In einem Raum ohne Grenzen und Kontrolle treffen so Hetze und Kult aufeinander. Beschränken lassen sich die Nachklänge des Bejlis-Falls jedoch nicht nur auf das Internet. Wie ein über die Jahrzehnte gewachsener und bis heute erhaltener Märtyrerkult um Andrej Juščinskij erkennen lässt, sind seine Anhänger fernab des Internets genauso aktiv wie in Foren und Kommentarfeldern. Ob jedoch im Internet oder in der realen Welt, das Schema ist meist das gleiche: Mendel’ Bejlis ist ein religiös fanatischer Mörder, während Andrej Juščinskij einen grausamen Märtyrertod starb.

Exponate zum Thema


Der Prozess im Stummfilm von 1917 - „Process Bejlisa“ [dt. Der Bejlis-Prozess], auch bekannt unter dem Titel „Vera Čibirjak, ili Krovavyj navet (Delo Bejlisa)“ [dt. Vera Čibirjak oder die Ritualmordlegende (der Bejlis-Fall)], ist ein Werk des russischen Regisseurs und Schriftstellers Nikolaj Breško-Breškovskij. Der Stummfilm besteht aus fünf Teilen, von denen heute nur noch drei erhalten sind, und thematisiert den Gerichtsprozess. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Voreingenommenheit des Gerichts und die mediale Propaganda gegen den zu Unrecht verdächtigten Mendel’ Bejlis gelegt. Kurz nach Vollendung des Films wurde seine Präsentation in sowjetischen Kinos verboten, weil man befürchtete, so nationalen Hass zu schüren. Quelle: Process Bejlisa, Regie: Nikolaj N. Breško-Breškovskij, Russland 1917.


Ein Spottlied auf die Antisemiten - Der sowjetische Sänger Vladimir Vysockij, der aus einer russisch-jüdischen Familie stammte, ist vor allem für seine regierungskritischen Lieder bekannt. In „Antisemity“ [dt. Antisemiten] (1963-1964) philosophiert er bei einem fiktiven Gespräch mit einem Betrunkenen über Juden und macht sich dabei über Antisemiten lustig. Ausschnitt aus dem Lied: „Aber derselbe Säufer sagte mir nach der Tat,/ dass sie das Blut christlicher Säuglinge trinken;/ Und einst sagten mir die Jungs in der Kneipe,/ dass sie [die Juden] vor sehr langer Zeit Gott gekreuzigt haben!/ Sie brauchen das Blut – sie haben in Eile,/ diese Scheusale, den Elefanten im Zoo zu Tode gequält!“. Quelle: Vladimir Vysockij: Antisemity [dt. Antisemiten], 1963-1964