Die Ritualmordlegende im Nationalsozialismus
Viele Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur sind mittlerweile mehrfach aufgearbeitet worden und dabei sind immer neue Perspektiven entstanden. Ein Bestandteil der antisemitischen Gräueltaten der NS-Zeit wurde hingegen noch nicht so ausführlich untersucht: angebliche jüdische Ritualmorde. Auch wenn die führenden Vertreter des NS-Regimes zunächst nicht viel mit dem Konstrukt anzufangen wussten, so machte es doch immerhin einen Teil der antisemitischen NS-Propaganda aus.1
In der Zeit des Nationalsozialismus selbst wurde in Deutschland kein bekannter Ritualmordvorwurf erhoben. Dennoch waren Ritualmordvorwürfe damals in einigen Medien vertreten und wurden als antisemitische Hetze genutzt. Noch in der Weimarer Republik versuchten Teile der unterfränkischen NSDAP den Mord an dem knapp fünfjährigen Jungen Karl Keßler als “Ritualmord von Manau” darzustellen. Der Vorwurf von Manau soll an dieser Stelle als Beispiel dienen, um zu zeigen, wie die Nationalsozialist*innen versuchten, die Hetze um “Ritualmorde” zu verbreiten. Dabei wurden gezielt Fake News durch den Stürmer verbreitet, um jüdische Mitbürger zu beleidigen, zu diffamieren und zu beschuldigen.
Im Rahmen dieses Projektes sollen die zwei Sondernummern des Stürmers vorgestellt werden, die sich explizit mit angeblich bestätigten Ritualmordfällen auseinandersetzen. Die Sondernummern, die in höherer Auflage als die normale Wochenausgabe erschienen, weisen neben den Lügen, die darin verbreitet werden, auch die für den Stürmer üblichen perfiden Karikaturen von Personen jüdischen Glaubens auf. Die Sondernummern erschienen in den Jahren 1934 und 1939. Auch in der Kindererziehung wollte der Stürmer-Verlag die Ritualmordlegende eingesetzt wissen. In dem antisemitischen Kinderbuch Der Giftpilz, herausgegeben von Ernst Hiemer im Jahr 1938, erzählt eine Kurzgeschichte von angeblichen jüdischen Ritualmorden.
Ganz perfide wird es, wenn man sich näher mit den Nürnberger Prozessen in Zusammenhang mit der Ritualmord-Propaganda beschäftigt. Zum einen wurde dort der Herausgeber des Stürmers, Julius Streicher, angeklagt und als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt; zum anderen gab es von sowjetischer Seite den Vorwurf, die Wehrmacht hätte slawische Kinder ausbluten lassen, um die eigenen verwundeten Soldaten mit dem Blut versorgen zu können. Nach Kriegsende tauchten dann Augenzeugenberichte von Menschen auf, die sich daran erinnern, wie ihnen als Kinder viel Blut von den Nazis entnommen wurde. Hier liegt einmal mehr der Verdacht nahe, dass die Nazis das, was sie den Juden vorwarfen, selbst verübten.
Allerdings gab es unter den Vertretern der Ritualmordlegenden Differenzen um die Deutungshoheit. Der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg, aber auch andere antisemitische Autoren, wie Johann von Leers, Gerhard Utikal, Wilhelm Matthiesen, Hans Jonak von Freyenwald oder Hellmut Schramm, verfassten und veröffentlichten pseudowissenschaftliche Pamphlete, die den Antisemitismus in Deutschland weiterverbreiten sollten. Diese Publikationen beruhen oftmals auf angeblichen wissenschaftlichen Quellen aus dem Mittelalter, sollen aber den zur NS-Zeit aktuellsten Forschungsstand widerspiegeln. Geflissentlich ignorierten die NS-Autoren dabei neuere Erkenntnisse und Aussagen, die die Ritualmord-Behauptungen widerlegen.
Ritualmordanschuldigungen dienten u.a. dazu, den Genozid an den Jüdinnen und Juden vor den eigenen Soldaten zu rechtfertigen. Allerdings wurde die Authentizität der von den Nazis verwendeten Quellen zur Verbreitung ihrer Hetze zu Recht auch angezweifelt. Auf wissenschaftlicher Ebene tat dies Will-Erich Peuckert, der den einschlägigen Beitrag im Handwörterbuch des deutschen Aberglauben verfasste und dort die Anschuldigungen gegenüber Juden und Jüdinnen und die Wissenschaftlichkeit der Autoren hinterfragt.
Es gab auch andere Gegenreaktionen auf die NS-Hetze zu den “Ritualmorden”. Mehrere Zeitungen äußern sich kritisch gegenüber dieser nationalsozialistischen Propaganda. Dabei erhob vor allem die jüdisch-osteuropäische Presse mahnend gegenüber der NS-Propaganda ihre Stimme.
Als neuere Auseinandersetzung mit dem Thema soll hier ein Text des DDR-Schriftstellers Franz Fühmann genannt werden. In seinem autobiographischen Werk Das Judenauto setzt er sich mit der Indoktrinierung durch das nationalsozialistische Regime auseinander: Es wird deutlich, wie er unterbewusst Antisemitismus in seine Denkweise aufnahm und Angst vor jüdischen Mitbürger*innen entwickelte.
Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen “Ritualmord”-Propaganda, die gezielt Falschmeldungen, Lügen, aber auch Beleidigungen und Hetze verbreitete, soll eine Sensibilisierung schaffen, nicht allem, was verbreitet wird, glauben zu schenken. Es zeigt sich, dass das Thema Fake News nicht nur ein Problem des Internetzeitalters ist, sondern eine lange Wirkungsgeschichte hat.