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Das ,,Gruselkabinett“

“[A]uf dem Marsch ins fromme Gruselkabinett“1. So beschreibt der damalige Bischof Stecher im Jahr 1981 den Weg zur Kirche nach Rinn, als er noch ein Kind war. Er spricht davon, dass die Neugierde ihn und andere Kinder zur Kirche gezogen hätte, in welcher sie die lebensgroßen Figuren auf dem eiszeitlichen Findling bestaunen konnten. Der Findling, auch bekannt als Judenstein, ist der Namensgeber des Ortes, wo die Legende des Anderl von Rinn ihren Lauf genommen hat. Bis zum Sommer 1961 standen auf diesem Stein jene hölzernen Figuren, die Franz Xaver Nißl, ein bedeutender österreichischer Holzschnitzer, im Jahr 1766 hergestellt hatte. Die Skulpturen zeigen den im rötlichen Gewand gekleideten und mit einem Strick gewürgten Anderl. Um ihn herum steht eine Gruppe, in orientalischer Tracht gekleideter Juden, die Messer und Gefäße bei sich tragen, um darin das Blut aufzufangen. Einer von ihnen trägt eine Geldbörse bei sich, womit nach der Anderl-Legende der Onkel für den Verkauf des Kindes bezahlt wurde. Von Bischof Stecher wird auch das Gefühl erläutert, welches die Skulpturen ihren Besuchern vermittelten: Man empfände Mitleid mit dem Kind, das hier ermordet worden sein soll und Zorn gegenüber jenen, welche als Juden stilisiert wurden. Auch Günther Bernd Ginzel, ein in Tirol geborener Publizist jüdischer Abstammung, spricht 1990 davon, welches Gefühl die Figuren in ihm erweckten. Er könne die Darstellung nicht mit den Erfahrungen in Beziehung setzen, die er selbst durch seine Religion gemacht habe.2 1961 wurde die Gruppe dann jedoch entfernt.
Der Abt des Stiftes Wilten, Alois Stöger hatte sich am 29. April 1961 schriftlich an den Vatikan gewandt. In seinem Brief bat er um die Erlaubnis oder den Befehl, die antijüdischen Gegenstände aus der Kirche entfernen zu dürfen, was mit dem Antwortschreiben vom 5. Mai 1961 bewilligt wurde. Dieses stilisierte man später zu einer Bulle Papst Johannes’ XXIII. Die Figuren kamen danach ins Tiroler Landesmuseum nach Innsbruck, wo sie bis heute für die Öffentlichkeit unzugänglich gelagert werden. Inzwischen ist auf dem Stein eine neue Figurengruppe montiert worden. Hierfür wurde eine Ölberggruppe in Wien restauriert und anschließend in die jetzt Mariä Heimsuchung genannte Kirche gebracht. Bei einer sogenannten Ölberggruppe handelt es sich um Skulpturen, die immer eine spezifische Szene der Bibel darstellen: Jesus, der mit drei Jüngern zum Ölberg im Garten Gethsemane geht, um zu beten. Dort wird er von Angst überwältigt, findet die Jünger schlafend vor und akzeptiert schließlich den Tod, der ihn erwartet. Diese Stelle findet sich im Evangelium nach Matthäus (Mt 26,36–46).3 Auch die neue Figurengruppe hat lebensgroßes Format. Neben der Ölberggruppe ist eine kleine Gedenktafel angebracht, auf welcher folgender Text steht:

DIESER STEIN ERINNERT AN EINE DUNKLE BLUTTAT ABER AUCH DURCH SEINEN NAMEN AN MANCHES UNRECHT DAS VON CHRISTEN AN JUDEN BEGANGEN WURDE. ER SOLL IN ALLE ZUKUNFT EIN ZEICHEN DER VERSÖHNUNG MIT JENEM VOLKE SEIN, AUS DEM UNS DER ERLÖSER ERSTAND.

Hier wird nicht nur deutlich, dass man an der Legende des Anderl weiterhin festhält. Gleichzeitig dient diese Tafel dazu, an das Unrecht zu erinnern, das der jüdischen Bevölkerung angetan wurde. Dieses besteht darin, dass man ihnen im Lauf der Geschichte immer wieder sogenannte Ritualmorde vorwarf. Im Hinblick auf Anderl von Rinn kann diese Tafel insofern als Form der Entschuldigung gesehen werden, als man ihnen diesen Mord unterstellte und es im Folgenden immer wieder zu antijüdischen Anfeindungen kam. Diese konnten bis heute nicht aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt werden und es gibt weiterhin einige Anhänger*innen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass es die reine Wahrheit ist, die Hippolyt Guarinoni in seiner Historj oder seinem Triumph-Lied niederschrieb.

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