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Anderl von Rinn in der Literatur der Jahrhunderte
Nachdem die Legende vom Anderl einmal in der Welt war, beschäftigte sich binnen kurzer Zeit eine ganze Reihe von Personen mit dem Thema.1 In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten erschienen diverse populäre Schriften, welche die Anderl-Legende in Guarinonis Lied-Stil oder als Roman verarbeiteten. Unabhängig von der Textart wurden die meisten Veröffentlichungen von den Autoren durch Abbildungen ergänzt, die den Inhalt des Textes eingängig visualisieren und zuspitzen. Inhaltlich muss davon ausgegangen werden, dass Guarinonis Triumph-Lied, ggf. auch seine Historj, für sie alle als Vorlage diente, entweder in Form des Originals oder einer der auf ihm basierenden Nachdrucke.
Daher soll an dieser Stelle auf die Betrachtung der zahlreichen Neuauflagen des Guarinonischen Triumph-Liedes selbst verzichtet werden und der Fokus auf jenen Schriften liegen, die den Inhalt in andere Form brachten. Ein erstes prägnantes Beispiel für derartige Umarbeitungen stellt die Fassung des Jesuiten und Wiltener Prämonstratenser-Chorherrn Ignatio Zach dar. Unter dem Titel Ausführliche Beschreibung / der Marter / Eines heiligen und unschuldigen / Kinds Andreæ / von Rinn […] veröffentlichte er 1723 eine detaillierte Variante der Legende. Die romanhafte Schilderung umfasst 255 Seiten sowie 22 Kupfertafeln, welche die im Text präsentierte Handlung illustrieren. Außerdem finden sich, ähnlich wie in Guarinonis Triumph-Lied, bereits auf dem Titelbild einige zentrale Hinweise auf den Inhalt der Legende. Im Zentrum des Frontispizes steht hier allerdings nicht das Kind, sondern das Portrait eines Geistlichen. Es ist zu vermuten, dass es sich hierbei um Zach selbst handelt.
Wenige Jahre später folgte die Publikation der Acta pro veritate Martyrii corporis, cultus Publici B. Andreæ Rinnensis Pueruli […] [Handlung von der wahren körperlichen Marter, des öffentlichen Kultes des s[eligen] Kindes Andreæ von Rinn; LS], verfasst vom Prämonstratensermönch Adrian Kembter. Diesem 1745 gedruckten Text voran steht ein eindrücklicher Titelkupfer. Wie bei den schon genannten Werken wird Anderl hier in seinem typischen Kleidchen mit dem Palmwedel in der rechten und dem Messer in der linken Hand dargestellt. Im Gegensatz zu den meisten vorhergegangenen Darstellungen präsentiert die Illustration aber nicht einfach ein Kind, sondern ein Kinderskelett.
Ungeachtet den durch die Aufklärung veränderten Wahrnehmungen, brach auch im 19. Jahrhundert die Zahl der Veröffentlichungen zur Anderl-Legende nicht ein. So schrieb beispielsweise Lorenz Andreas Falschlunger die Kurze Geschichte des unschuldigen Kindleins und wunderbaren Blutzeugen Andreas von Rinn, welche 1803 in Innsbruck veröffentlicht wurde. In Andenken an die 400-jährige Säkularfeier folgte 1862 erneut eine Beschäftigung mit der Geschichte.
Während die zuvor genannten Schriften darauf zielten, den Inhalt der Legende wiederzugeben, war das Anliegen des Rabbiners Josef Sagher naturgemäß ein anderes. 1911 brachte er unter dem Titel Kritisch historische Untersuchung der Geschichte des Anderl von Rinn und die Intervention beim Vatikan und Papst Pius X. seine Aufarbeitung der Legende heraus. In dieser Untersuchung, welche maßgeblich auf seinem persönlichen Kampf gegen den Kult basiert, stellte sich Sagher kritisch gegen den Anderl-Kult und seine Verbreitung. So veröffentlichte er unter anderem sein Schreiben an den Fürstbischof von Brixen, in dem er ihn bittet, die antijüdischen Votivbilder und die Figurengruppe aus der Kirche in Rinn zu entfernen. Die Antwort lautete eindeutig: Es gäbe nicht genug Beweise für eine völlige Erfindung der Geschichte. Dem Anliegen könne also nicht nachgekommen werden.2
Abschließend soll eine weitere Variante des Narrativs erwähnt werden, die aufgrund ihrer berühmten Herausgeber und ihrer Bedeutung für die Verbreitung zahlreicher Märchen und Legenden an dieser Stelle nicht fehlen darf: Die Brüder Grimm veröffentlichten den Stoff 1816 in ihrer Sagensammlung unter dem Titel Der Judenstein und trugen damit sicherlich in hohem Maße zur Popularisierung der Legende bei.
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