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Das Triumph-Lied
Im Jahr 1642 wurde der Grundstein für den dauerhaften Erfolg des Anderl-Kultes gelegt. Denn in diesem Jahr veröffentlichte Hippolyt Guarinoni seine als Triumph-Lied bekannte Schrift Triumph Cron / Marter / Vnd Grabschifft deß Heilig= / Vnschuldigen Kindts, / ANDREÆ Von Rinn. / Deß Vntern Yhnthalß, / Umpasser Pfarr, / Der Hoch=Wol Ehrwürdig, / Geistlich, Wol Edle hochgelerte herrn / Canonicoru Præmonstratenser Ordens / zu Wiltaw Einuerleibt / Gesangsweiß, / Im thon des Teuͤren Ritters vnd / Grafen herrn Niclaus von / Serin, gerichtet. / Cum licentia Superiorum [“Mit Erlaubnis der Oberen”, LS] / Getrückt zu Ynnßprug. / bey Michael Wagner. / Anno 1642.
Der Text beginnt mit einer kurzen Dedicatio (Widmung) sowie den Noten jenes Liedes, nach dessen Vorlage Guarinoni seinen Text dichtete (s. Titel). Darauf folgt die eigentliche Geschichte, erzählt in insgesamt 73 Strophen. Abschließend finden sich ein umfangreiches Epitaphivm (Grabinschrift) sowie diverse Gebete für Anderl und – interessanterweise – auch für Simon von Trient.
Schon zur Zeit der Veröffentlichung bestach der Text nicht alleine durch die Ausführlichkeit, mit der das Leben und die Ermordung des Anderl geschildert werden. Zunächst sei auf den Titelstich verwiesen. Auf ihm finden sich bereits alle Elemente, die für das Ritualmordnarrativ ausschlaggebend sind: Der Anderl in der Mitte wird mit dem Palmwedel des Märtyrers und dem Tatmesser in der rechten Hand gezeigt. Mit der linken Hand umfasst er eine Birke, an der er laut Legende aufgehängt worden sein soll. Rechts von ihm zu sehen ist der heilige Norbert, der – wie der Bildunterschrift zu entnehmen ist – als „Stiffter deß heiligen Praemostratenser Ordenß Obijt Anno 1134“ gilt. Er hatte sich – so zumindest die Erzählung – an Weihnachten im Jahr 1120 für eine strengere Auslegung der Augustinerregeln entschieden und daraufhin den Prämonstratenserorden gegründet.
Links vom Anderl befindet sich der Riese Haymon, der hier als „Stiffter deß Alt-Loblichen Gottshaus und Closters Wiltau Obijt Anno 878” seine Daseinsberechtigung findet. Der Legende nach soll er seinen Gegner Thyrsus im Zweikampf erschlagen haben, woraufhin er sich zum Christentum bekehrte und das Stift Wilten gründete.1
Ebenso erscheint die Mutter des Anderl mit den drei Blutstropfen auf der einen und der Sichel für die Feldarbeit in der anderen Hand. Am unteren Bildrand lässt sich das Dorf Rinn als Verortung der Legende innerhalb des Bildes erkennen.
Ähnliche Stiche, die den Text visuell ergänzen, finden sich durchgängig auf den Blättern des Liedtextes. Auf insgesamt fünf Seiten à vier Bildern wird in regelmäßigen Abständen wiedergegeben, was auf der Textebene beschrieben ist. Unter den einzelnen Abbildungen steht jeweils eine kurze Zusammenfassung der dargestellten Geschehnisse. Diese Bild-Text-Verbindung ermöglichte es schon im 17. Jahrhundert auch dem analphabeten Teil der Bevölkerung, dem Inhalt zu folgen.
Exemplarisch sei hier auf die vier Abbildungen zur Mordszene verwiesen. Auf den ersten beiden ist der Anderl im Zentrum zu sehen, liegend auf dem sogenannten Judenstein. Ihn umgeben seine angeblichen jüdischen Mörder, die dank des in antijüdischen Darstellungen typischen „pileus cornutus“ (jüdischer Spitzhut) erkennbar gemacht werden.2 Sie alle halten Messer in den Händen, einer von ihnen fängt das Blut des Kindes in einer Schale auf. Die folgenden beiden Bilder zeigen, wie die Juden Anderl an einer Birke aufhängen und anschließend mit seinem Blut verschwinden.
In der hier gezeigten Ausgabe des Triumph-Liedes, welche sich im Ferdinandeum in Innsbruck befindet, fehlt die folgende Doppelseite und damit ein großer Teil jener Passage des Liedes, in der die Mordszene geschildert wird. Dies lässt sich so genau nachvollziehen, weil im Ferdinandeum neben anderen Ausgaben auch die dritte, bis auf wenige orthographische Anpassungen unveränderte Auflage des Liedes von 1677 aufbewahrt wird. Doch nicht nur in ihrer Funktion als Ergänzung der Ausgabe von 1642 ist diese Variante von Bedeutung: Sie ist auch Nachweis der ansonsten schwierig messbaren Wirkkraft des Liedes, das innerhalb von lediglich 35 Jahren bereits drei Mal aufgelegt wurde. Ein knappes Jahrhundert später, 1729, nahm sich dann der damalige Wiltener Priester dem Lied an und veröffentlichte eine „verbessert und ergenzet“ Variante, die den Auftakt für viele weitere Beschäftigungen mit dem Anderl-Stoff bildete. Sie alle basieren auf Guarinonis Triumph-Lied.
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