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Die Affäre von Tiszaeszlár

Als am 1. April 1882 die Blutbeschuldigung von Tiszaeszlár ihren Lauf nahm, blickten die Magyaren und die jüdische Bevölkerung in Ungarn auf eine fast tausendjährige gemeinsame Geschichte zurück. Geprägt wurde diese insbesondere durch die Konvertierung der Magyaren zum römisch-katholischen Glauben – um ca. 1000 n. Chr. –, die eine Vielzahl sukzessiv eingeführter Restriktionen für Angehörige des jüdischen Glaubens zur Folge hatte.
Die Einhaltung dieser gesetzlich verankerten Restriktionen schränkte die Arbeits- und Lebensmöglichkeiten jüdischer Glaubensangehöriger massiv ein. In der alltäglichen Lebenspraxis wurden jene Gesetze von beiden Seiten jedoch häufig umgangen – der größte Teil des magyarischen Adels gewährte jüdischen Familien die Möglichkeit, sicher auf seinen Ländereien zu siedeln. Andrew Handler, der sich in Blood libel at Tiszaeszlar intensiv mit der Affäre sowie mit deren Begleitumständen auseinandersetzt, führt diese Nichteinhaltung, die immer wieder den päpstlichen Zorn provozierte, auf das hohe ökonomische Potenzial der jüdischen Bevölkerung zurück, das die Sorge vor möglichen Konsequenzen deutlich überwog.1
Zu einem großen Teil führte eben dieses Potenzial dazu, dass selbst die Aufhebung der meisten restriktiven Gesetze durch den Landtag 1839/40 die alltägliche Lebenspraxis der jüdischen Bevölkerung nur bedingt positiv beeinflusste. Zusätzlich zu religiösen Vorurteilen, die jahrhundertelang durch Staat und Kirche geschürt worden waren, wurden Angehörige des jüdischen Glaubens als starke ökonomische Konkurrenten wahrgenommen, sodass die christliche Bevölkerung ihren sozioökonomischen Status durch eine volle Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden gefährdet sah.2 Nach dem österreich-ungarischen Ausgleich von 1867 und der damit verbundenen praktischen Unabhängigkeit des ungarischen Staates gerieten jüdische Glaubensangehörige in den Strom des aufstrebenden Nationalismus: Sie boten, zusätzlich zu religiösen Vorurteilen, dadurch Angriffsfläche für Gegner ihrer Emanzipation, dass sie sich nicht nur in Bezug auf ihre Religion von der christlichen Bevölkerung unterschieden. Ihre Kinder besuchten oftmals jüdische Schulen mit eigenen Curricula, sie trugen deutsche Namen, sprachen untereinander Jiddisch und vermittelten so den Anschein sozialer und ökonomischer Exklusivität, die dem Ideal der vollständigen Assimilation, das die Nationalisten verfolgten, widersprach.3
Als nun im Kontext dieses politischen und gesellschaftlichen Klimas am Tag vor dem jüdischen Pessachfest Eszter Solymosi auf dem Weg zum Einkauf für ihre Dienstherrin verschwand und ihre Mutter Theorien über eine rituelle Ermordung der Tochter durch die ortsansässigen Juden verbreitete, ergriffen drei antisemitische Abgeordnete, die mit ihren Parolen bis dahin keinerlei Erfolge hatten verzeichnen können, die Gelegenheit, den Vorfall für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren.
Győző Istóczy, Anführer der Antisemiten in Ungarn, hatte mit seinen flammenden Reden zur Lösung der Judenfrage bis dahin wenig Anklang gefunden. Géza Ónody, der selbst in Tiszaeszlár lebte und auch aus persönlichen Gründen einen Groll gegen die jüdische Bevölkerung in Tiszaeszlár hegte,4 brachte sich intensiv in die Ermittlungen rund um das vermisste Mädchen ein. Komplettiert wurde das Trio durch Iván Simonyi, den Herausgeber des Westungarischen Grenzboten. Durch Ónodys radikales Auftreten, gezielte Berichterstattung in Simonyis Zeitung sowie stetige Thematisierung im Parlament verbreiteten sich die Ritualmordtheorien innerhalb kürzester Zeit.
Insbesondere in Deutschland und Ungarn, im Kontext aufstrebender Nationalisten sowie zunehmender antisemitischer Tendenzen und jahrhundertelang gewachsener religiöser Vorurteile und Konkurrenzängste, fielen die Theorien auf fruchtbaren Boden und führten sogar zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung.5 Das Interesse an dem vermeintlichen Ritualmord erregte die Aufmerksamkeit der deutschen Antisemiten und führte unter anderem zur Einladung der ungarischen Gesinnungsgenossen zu den Internationalen Antijüdischen Kongressen 1882 in Dresden und 1883 in Chemnitz. Diese boten eine weitere Plattform, um die Berichterstattung in nationalen sowie internationalen Medien zu befeuern.
Obgleich die Ritualmordtheorien und die damit verbundenen politischen Ideale auf internationaler Ebene letztlich nur begrenzten Anklang fanden, fühlten sich die Vertreter derselben selbst durch den Freispruch der Angeklagten in ihrem Weltbild bestätigt.
Bis heute kursiert vermeintliches Wissen über den Einfluss, den das sogenannte Weltjudentum in seiner Allmacht auf den Prozessausgang genommen habe, sowie über die Wahrhaftigkeit der jüdischen Ritualmordlegenden in vielerlei Medien und findet vor allem über das Internet Anhänger in antisemitischen Kreisen. Diese beziehen sich in ihren konstruierten Beweisketten oftmals auf zeitgenössische antisemitische Publikationen6 – ein eindrückliches Zeichen für die beständige Macht, die falsche Berichterstattung, und sei sie noch so oft widerlegt worden, auch Jahrzehnte später noch innehat.