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Der Prozess

Am 19. Juni 1883 begannen die Verhandlungen im Kreisgericht von Nyíregyháza. Rund ein Jahr nach dem Verschwinden der Eszter Solymosi saßen noch immer 72 in Tiszaeszlár verhaftete Juden in Untersuchungshaft. Erst kurz vor dem Prozess wurden 57 von ihnen aus Mangel an Beweisen entlassen. Die restlichen 15 aber wurden angeklagt. Salamon Schwarz, Ábrahám Buxbaum, Leopold Braun und Hermann Wollner waren die Hauptangeklagten, die des Mordes beschuldigt wurden. Elf weitere jüdische Männer wurden der Beihilfe zum Mord angeklagt.1 Der Prozess sorgte auch in anderen Teilen Europas für großes Aufsehen; man war fassungslos über die antisemitische Hetze, die mit der Berichterstattung über den Fall und den Prozess einherging. In einem Teil der nationalen Presse galt der rituelle Mord bereits als erwiesen, die Angeklagten als schuldig, noch ehe der Richter sein Urteil sprechen konnte. Die antisemitische Partei des Landes hatte ihren Anteil daran, dass der Fall so aufgebauscht wurde, dass er erst nationales und kurze Zeit später sogar internationales Interesse erregte. Die beiden Parlamentsabgeordneten der ungarischen Antisemitenpartei Géza Ónody und Győző Istóczy taten alles in ihrer Macht stehende, um das Gerücht, dass es sich bei den Ereignissen um einen jüdischen Ritualmord handle, zu befeuern. Sie schreckten selbst davor nicht zurück, liberal oder neutral eingestellte Pressevertreter und sogar Justizbeamte zu beschimpfen, zu bedrohen oder ihnen gegenüber gewalttätig zu werden.
Die Affäre von Tiszaeszlár gilt nicht nur wegen der großen Welle des Antisemitismus, die sie verursachte, als bedeutsam, sondern auch, weil sie die Grundlage für die spätere Rechtsreform bildete. Das ungarische Rechtssystem galt schon zur Zeit des Prozesses als unzeitgemäß, da es seit der ständischen Zeit nicht überarbeitet worden war. Es gab keine Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus, die Aufgaben von Polizei und Gericht vermischten sich, so dass es zu Kompetenzkonflikten kam. Auf Grund bruchstückhafter Verfahrensregeln durften die Verteidiger für die Dauer des Prozesses nicht mit ihren Mandanten sprechen und die Unterlagen der Untersuchung waren für die Verteidigung nicht einsehbar. Der Verteidiger Károly Eötvös merkte an, dass die für diesen Fall herangezogenen Gerichtsbeamten minderwertig ausgebildet waren, da es keine Befähigungsbedingungen für sie gab. Als Notar des Untersuchungsrichters war beispielsweise ein Mann eingesetzt worden, der selbst wegen Mordes 15 Jahre im Kerker gesessen hatte.2
Die Verhandlung selbst macht deutlich, wie dünn die Beweislage eigentlich war. Solymosis Mutter sagte als Belastungszeugin aus, dass sie von der Schuld der Juden felsenfest überzeugt sei und begründete dies wie folgt: „Ich träumte es, Gott hat es mir verkündet.“3 Eine göttliche Eingebung konnte aber selbst im ungarischen Justizsystem der damaligen Zeit nicht als stichhaltiger Beweis geltend gemacht werden. Das Gerücht, die im Fluss gefundene Frauenleiche sei nicht Eszter Solymosi, sondern eine andere, von den Juden mit Eszters Kleidern bestückte Frau, konnte zügig entkräftet werden. Drei unabhängige Universitätsprofessoren, DDr. Scheuthauer, Géza Mihálkovics und Joh. Belki erwirkten eine erneute Untersuchung der Leiche. Sie sahen das erste vor Gericht verwendete medizinische Gutachten als eine Schande für den Berufsstand der Mediziner an. Die Exhumierung der Leiche mit anschließender Identifizierung ergab zweifelsohne, dass es sich dabei um die vermisste Eszter Solymosi handelte. Auch der 14-jährige Kronzeuge Móric Scharf, Sohn des Angeklagten József Scharf, der nach seiner Festnahme und in einem durch Folter erzwungenen Geständnis behauptet hatte, er habe das Vergehen durch das Schlüsselloch der Synagoge beobachtet, konnte durch eine einfache Ortsbegehung der Lüge überführt werden. Es war nämlich schlichtweg nicht möglich, durch das Schlüsselloch ins Innere der Synagoge zu schauen. Daraufhin wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Der Staatsanwalt erklärte die jüdische Blutbeschuldigung für ein mittelalterliches Märchen und forderte die Freilassung aller Angeklagten. Der Richter gab dem statt und sprach alle 15 Männer frei.4