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Mord als Politikum
Aufgrund der ausführlichen Berichterstattung der Presse hatte der Fall Buschhoff selbst das Preußische Abgeordnetenhaus in Berlin erreicht. Die Kammer befasste sich in ihrer 14. Sitzung mit der Buschhoff-Affäre. Diese fand einen Tag nach der Wiederverhaftung Adolf Buschhoffs am 9. Februar 1892 statt; die Diskussion wurde in der Sitzung vom 19. März weitergeführt. Anlass war eine Debatte über den Justizetat und die Öffnung der Justizlaufbahn für Juden. Die Redebeiträge kamen von den Vertretern der Deutschkonservativen, dem Zentrum sowie der Nationalliberalen, der Freikonservativen und der (linksliberalen) Deutschen Freisinnigen Partei zusammen. Bei dieser Zusammensetzung standen die konservativen und antisemitischen Kreise den Liberalen gegenüber. Der rechtskonservative Teil instrumentalisierte den sogenannten Xantener Knabenmord, um die rechtliche Gleichstellung der Juden rückgängig zu machen und die Justiz zu kritisieren. Die Anschuldigungen beruhten größtenteils auf Halbwissen, Gerüchten und Vorurteilen. Im Gegensatz dazu versuchten die Liberalen die rechtliche Gleichstellung der Juden und die Neutralität der Justiz zu verteidigen sowie den “Ritualmord” als Märchen zu entlarven. Die beiden Sitzungen waren durch einen parlamentarischen Schlagabtausch der beiden Seiten gekennzeichnet.
Die Februarsitzung begann der liberale Abgeordnete Heinrich Rickert für die Deutsche Freisinnige Partei mit der Schilderung des Falls Buschhoff, um gleichzeitig die weiteren Vorgänge heftig zu kritisieren. Dabei ging er hauptsächlich auf die Eingriffe der antisemitischen Front, die Hetze gegen jüdische Mitbürger und das “alberne Märchen” vom Ritualmord ein. Danach kam der konservative Politiker Adolf Stoecker der Deutsch-Konservativen Partei zu Wort. Er äußerte zwar die Meinung, wonach der Begriff ‚Ritualmord‘ abzulehnen sei; jedoch lasse sich das Abschlachten christlicher Kinder durch jüdischen Fanatismus zweifelsfrei in der Geschichte belegen. Stoecker vertrat die These, wonach, wenn ein Jude tatverdächtig sei, man den Schuldigen nie fände. Für ihn habe auch im Fall Buschhoff die Justiz so nachlässig und parteiisch ermittelt, dass Buschhoff nicht überführt werden konnte. Im weiteren Verlauf seiner Schilderung des Falls wurde durch seine irrigen Aussagen deutlich, wie viele Fehlinformationen sich verbreitet hatten. Er vertrat zum Beispiel, dass die Leiche des Jungen am 24. Juni aufgefunden wurde, der Tatort aber erst am 4. Juli besichtigt worden sei. Daraufhin stellte Justizminister Hermann von Schelling das justizielle Verfahren im Xantener Mordfall sachlich dar und die falschen Aussagen Stoeckers richtig. Schelling betonte, dass es sich nicht um ein rituelles Tötungsdelikt handele.
In der 36. Sitzung vom 19. März 1892 kam der Fall Buschhoff erneut zur Sprache. Der konservative Abgeordnete Otto Freiherr von Wackerbarth-Linderode beharrte weiterhin auf der Annahme eines rituellen Tötungsdeliktes. Er benutzte die Blutmord-Anschuldigung, um seinen Warnungen vor einer “jüdischen Weltherrschaft” Ausdruck zu verleihen. Rickert kritisierte die Worte des Freiherrn von Wackerbarth-Linderode scharf, denn es sei noch nie eine Rede in einem so antisemitischen Geiste gehalten worden. In seinem Schlusswort appellierte der Liberale an die Konservativen, ihre Aussagen zu überdenken.
Insgesamt machen die Diskussionen des Abgeordnetenhauses deutlich, dass die Politiker wenig offizielle Nachrichten aus Kleve und Xanten nutzten; sie bezogen ihre Informationen größtenteils aus Zeitungen und Flugschriften.1
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